Samstag, 25. Juli 2009

Mutter Anna und ihre Erscheinungen in Sainte-Anne d'Auray

Aus: "DAS ZEICHEN MARIENS" Oktober 1972:

Am vergangenen 26. Juli wurde überall das Fest der hl. Anna und des hl. Joachim gefeiert, der vorbildlichen Eltern der Heiligsten Jungfrau Maria. Im Zusammenhang damit möchte ich in
wenigen Zügen die wunderbare Geschichte der Erscheinungen der hl. Mutter Anna in der Bretagne in der Landebene von Auray vor beinahe 350 Jahren nachzeichnen.

Der Seher: Yves Nicolazic, 40jährig, Pächter. Seit 12 Jahren verheiratet, ohne Kinder, bewohnt den winzigen Weiler Ker-Anna. Er ist für seine Frömmigkeit, seine Redlichkeit und seinen Arbeitsfleiß bekannt. Er lebt übrigens wie ein Ordensmann. Jeden Abend, nach getaner Arbeit, begibt er sich zum Bocenno, um dort zu meditieren oder meistens, um seinen Rosenkranz zu beten. Le Bocenno ist ein Feld seines Pachtlandes, wo, wie man sagt, vor langer Zeit eine Kapelle zu Ehren der hl. Anna errichtet worden war. Es existieren tatsächlich noch einige sehr alte Steine an dem vermuteten Ort, sowie ein Ablass-Kreuz (une croix de pardon) 1200 Meter von da entfernt. Jedenfalls hält sich seit mehreren Generationen das Gerücht, daß man eines Tages an ebendiesem Ort eine neue Kapelle bauen werde.
Nun, in einer Sommernacht, wir befinden uns im Jahre 1623, fährt Yves Nicolazic mit einem Satz aus dem Schlafe auf, indem er an die hl. Anna denkt. Plötzlich erhellt sich sein Zimmer. Dieses Licht scheint von einer angezündeten Kerze zu stammen, die gehalten wird von einer gut sichtbaren Hand. Aber das Übrige des Körpers ist nicht sichtbar. Nicolazic fühlt sich ganz und gar nicht sicher; er glaubt, sich in Gegenwart einer Seele des Fegfeuers zu befinden und betet zu ihren Gunsten 2 Pater und 2 Ave. Alles verschwindet. Sechs Wochen später dasselbe Phänomen, diesmal jedoch auf dem Feld Le Bocenno, wo Nicolazic hinging, um bei Einbruch der Nacht zu beten. Ein kleiner Unterschied: die Hand ist nicht sichtbar wie das letzte Mal, und einzig eine brennende Kerze, deren gerade Flamme vom Winde nicht bewegt wird, erscheint bei ihm, schwebend im Raum.
Von diesem Abend an und während langer Monate noch wird Nicolazic erst nach Einbruch der Nacht nach Hause gehen, angeführt von einer geheimnisvollen Hand, die eine brennende Kerze trägt, deren Flamme eine große Helligkeit abgibt. Dieses außergewöhnliche Licht wird zweimal von Herrn Le Roux, seinem Schwager, wahrgenommen, der nicht verfehlen wird, sein Erstaunen auszudrücken. Aber Nicolazic weiß darüber nicht mehr als er. Übrigens gibt es da eine Sache, die sich unser Seher auf keinerlei Weise erklären kann: es ist die unaussprechliche Freude, die sein Herz während des Phänomens erfüllt. Tatsächlich bleibt er überzeugt, dass er es mit einer Armen Seele zu tun hat. (Er dachte an jene seiner eigenen Mutter, die vor drei Jahren gestorben war.)
Nun, eines Tages, während Herr Le Roux und er selber zusammen bei ihrer Herde am Brunnen von Le Bocenno waren, sehen sie über dem Felde eine Frau erscheinen, angetan mit einem weißen Kleid leuchtender als der Schnee, mit ernstem und zärtlichem Ausdruck zugleich. Sie schwebt im Raume, unbeweglich, dem Brunnen zugewandt. Ihre Füße ruhen auf einer Wolke und ihr mildes und heiteres Gesicht ist von einem Leuchten umgeben, das das ganze Feld bis zum Horizont erhellt. Diese Erscheinung hatte die überstürzte Flucht unserer beiden Seher zur Folge, die, als sie sich wieder gefasst hatten und zur verlassenen Stelle zurückgekehrt waren, nichts mehr sahen. Einige Tage später, am 25. Juli 1624 genau, (am Vorabend des Festes der hl. Anna) als Nicolazic nach hereingebrochener Nacht wie gewohnt nach Hause zurückkehrte, geht er an dem Kalvarien-Mal (ein aus Stein gebildetes hohes Wegkreuz auf einem Sockel, mit am Kreuzesstamm befestigten abstehenden Figuren der Mut-
tergottes und des hl. Johannes) vorüber, entblößt sein Haupt und schlägt ein Kreuzzeichen. Plötzlich ist die Frau da, ganz nah bei ihm.
„Nicolazic!" Mit einer Handbewegung beruhigt sie ihn und lädt ihn ein, ihr zu folgen. Ihre Füße sind eingetaucht in eine Wolke, die sich gen Ker-Anna zu bewegt, und Nicolazic folgt. Die Frau hält in ihrer Hand immer noch eine Fackel (große Kerze), die das ganze Feld erhellt. Wird sie endlich ihre Identität verraten? Nein; angekommen beim Pachtgut des Sehers, verschwindet sie. Nun ist es des Guten zuviel für unseren armen Nicolazic. Er lässt seine Frau alleine essen; er, er hat Hunger und Durst nach einer anderen Nahrung. Er sondert sich ab in die Kornscheune und fleht zum Himmel. Was will man von ihm? Als ganze Antwort: ein unglaublicher Lärm von Schritten, von Tausenden von Schritten, wie jene einer Menschenmenge im Marsch. Er öffnet die Türe, nichts. Darauf sinkt Nicolazic zusammen. Eine schreckliche Angst überfällt ihn; ist er normal, ist er nicht im Begriffe, verrückt zu werden? Es bleibt ihm nichts mehr, als sich an seinen Rosenkranz zu klammern; er ist seine einzige rettende Planke, und das Vertrauen kehrt zurück, zur gleichen Zeit, da er eine große Liebe zur Erscheinung verspürt. Plötzlich ist sie da, bei ihm, in der Scheune, und die Korngarben widerstrahlen im Lichte. Dann — langsam und zum ersten Mal, spricht sie so:
„Nicolazic, fürchte dich nicht. Ich bin Anna, die Mutter Mariens. Sag deinem Rektor, dass auf dem Landstück namens Le Bocenno einst vor jedem Dorf eine Kapelle stand, die meinem Namen geweiht war, die erste, die die Einwohner der Bretagne zu meiner Ehre erbaut hatten. Es sind nunmehr 924 Jahre und 6 Monate, dass sie zerfallen ist. Ich wünsche, dass sie so bald wie möglich wieder aufgebaut werde und dass du dafür sorgst. Gott will, daß ich da verehrt werde".
Und unser guter Nicolazic, nunmehr beruhigt, getröstet, glückerfüllt, das Herz voller Liebe, die Seele trunken von Wonne, schläft ein wie ein Kind.
Was geschieht alsdann? Sie können es sich vorstellen, wenn Sie die prächtige Basilika je gesehen haben, die jetzt die Landebene von Auray beherrscht. Ein enormer Liebeselan der ganzen bretagnischen Bevölkerung hat diese majestätische Wohnung aus dem Erdboden heraussteigen lassen, die würdig ist der Mutter Mariens. Ihrerseits ließ die hl. Anna nicht auf sich warten, den Zweck ihres Besuches an diesen Örtlichkeiten zu offenbaren. Sie brachte den Seelen die Vergebung Unseres Herrn. War sie nicht die Mutter der Mutter der Barmherzigkeit? Ihr war daran gelegen, es sogleich zu beweisen. Da die Pilger zu ihr beteten, um die Bekehrung des Rektors von Pluneret zu erlangen, der sie verfolgte, erachtete die hl. Anna den Augenblick für günstig, ihre Macht und ihre Güte zu zeigen. Hier, was nun geschah: Eines Morgens erfuhr der Rektor von Pluneret, ein rauher Mann aber aufrichtig, leider schlecht informiert über was genau geschehen war, dass sich eine Wallfahrt zum Bocenno organisiere und dass die gläubigen Verehrer der hl. Anna vor einer Statue der Heiligen beten und Opfergaben zu ihren Füßen niederlegen. Da er dies nicht weiter dulden konnte, entsendete er sogleich seinen Vikar, um diesen schändlichen Betrug zu stoppen. Dieser letztere kommt wütend am Orte der Erscheinungen an, nimmt die Statue der hl. Anna und wirft sie in den Graben und versetzt schließlich dem Schemel, auf dem ein Teller stand, der dazu diente, die Gaben aufzunehmen, einen Fußtritt. Zwei Wochen später erlitt der arme Rektor einen mysteriösen nächtlichen Angriff, der ihm zwei gelähmte Arme kostete. Sie hingen ihm elendiglich auf beiden Seiten herunter. Er versuchte sämtliche Medikamente; nichts nützte. Einer seiner Priesterfreunde sprach im Spaß von den Heilungen, die sich beim Brunnen Le Bocenno ereignen würden. Der Rektor zuckte mit den Achseln, wurde heftig und wütete sehr. Aber einige Tage später, in einer sehr dunklen Nacht, ging er hin, indem er wohl darauf achtete, dass es niemand erfahre. Hätte er sich schließlich doch getäuscht? Das kann jedermann passieren.
Beim Brunnen gelang es ihm nicht, allein seine Arme ins Wasser zu tauchen. Er hätte einer Hilfe bedurft; aber davon konnte nicht die Rede sein, jemand zu rufen. So bescheidete er sich damit, zu beten. Ebenso tat er am folgenden Tag und dies während 8 Tagen, denn er war starrköpfig. Sein Gebet rührte die hl. Anna, die ihm die Kraft gab, auf seine Eigenliebe zu treten. Am achten Tag kam er zurück zum Bocenno mit einem Bekannten, der ihm half, sich zu entkleiden und seine gelähmten Arme in das Wasser des Brunnens zu tauchen. In diesem selben Augenblick fanden sie ihre vollen Kräfte wieder.
Unser Rektor, höchst erstaunt ob seiner plötzlichen und vollständigen Heilung, aufs höchste bewegt, fühlte sein Herz zerfließen vor Liebe und Dankbarkeit zu Jener, die ihm so völlig verzieh. Er leistete öffentliche Abbitte, zu Füßen der Statue, vor allen Pilgern. Sehr mitgenommen bat er um die Gunst, die erste Messe lesen zu dürfen, die an diesem Orte gefeiert würde, und um der Kapelle zu einer schnellen Erbauung zu verhelfen, die er großartig wünschte, verzichtete er auf alle seine Rechte auf die Spenden, von welchen ein Drittel ihm von Amts wegen gehörte.
Wir sehen, dass Gott sich stets rühren lässt von einem Akt der Demut, vor allem, wenn das verlorene Kind eines seiner bevorzugten Söhne ist.
0livier
(Le Sourire de Marie, 2, 1972)
Aus dem Französischen übersetzt von Paul O. Schenker

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