Eine einfache Bäuerin
Am 13. Februar 1917 hörte Eudokia Andrianowa, eine Bauersfrau aus dem Dorfe Potschinki, in der Nähe von Moskau, nachts im Traume eine Stimme: «In Kolomenskoje ist eine schwarze lkone. Nehmt sie, reinigt sie, und betet vor ihr!»
Die einfache Bäuerin, der, soweit uns überliefert ist, noch nie übernatürliche Mitteilungen irgendwelcher Art zuteil geworden sind, war ziemlich erschrocken über diesen Auftrag. Da sie nicht wußte, wie sie ihn ausführen sollte (sie konnte doch nicht ganz Kolomenskoje nach einer großen, schwarzen lkone absuchen), bat sie Gott im Gebet, er möge sie erkennen lassen, auf welche Weise die Ikone zu finden sei.
Dreizehn Tage nach dem ersten Erlebnis, am 26. Februar, sieht sie im Traume eine weiße Kirche und in ihr majestätisch eine Frau thronen, von der sie sofort weiß, daß es die Mutter Gottes ist, obgleich sie das Gesicht der Frau nicht erkennen kann und ihr auch nichts gesagt wird.
Eudokia Andrianowa entschließt sich nun, hinüber nach dem Dorfe Kolomenskoje zu gehen und dem Pfarrer der dortigen Kirche (Vater Nikolaus Lichatschew) die ganze Angelegenheit vorzutragen. Es ist der 2. März. Nach abgelegter Beichte und empfangenem hl. Abendmahl begibt sie sich auf den Weg nach Kolomenskoje, wo sie am Nachmittag ankommt. Vater Nikolaus hört sich Ihren Bericht an, und da sie ihn um Rat bittet, was sie nun machen soll, nimmt er sie schweigend bei der Hand und führt sie in die Kirche. Er zeigt ihr alle Ikonen und fragt sie bei jeder: «Ist es die, die du gesehen hast?» - «Nein, Väterchen, eine solche war es nicht», ist jedesmal die Antwort der Bäuerin. Nachdem sie alle Ikonen betrachtet und keine gefunden haben, die der im Traum geschauten auch nur annähernd gleicht, will Eudokia Andrianowa wieder gehen. «Nein, bleibe noch einen Augenblick», sagte da Vater Nikolaus plötzlich, «vielleicht... mir fällt da etwas ein ... ». Und er bittet den Kirchendiener und einen Mann, der gerade gekommen ist, ihn zu einem Versehgang zu holen, doch in das unterirdische Kirchengewölbe hinabzusteigen und die größte Ikone, die sie dort finden, heraufzubringen. Die Männer kehren zurück und bringen ein großes Bild, auf dem außer einer dicken Schmutz- und Staubschicht fast nichts zu erkennen ist. Vater Nikolaus ordnet an, es ins Pfarrhaus zu tragen und dort zu säubern.
«Mein Gott, sie ist es!»
«Hast du diese Ikone im Traum gesehen?», fragt er, auf das nunmehr gereinigte Bild deutend. «Mein Gott», schluchzt Eudokia auf, «sie ist es!» Sie verbeugt sich vor der Ikone dreimal bis zur Erde und küßt sie ehrfürchtig. Die übrigen folgen ihrem Beispiel. Vater Nikolaus zelebriert noch am Abend desselben Tages eine Dankandacht vor der neuerschienenen Ikone.
Diese aber hat folgendes, für byzantinische Kunstüberlieferungen ungewöhnliches Aussehen: Die Gottesgebärerin, in einen Purpurmantel gehüllt, sitzt auf einem byzantinischen Kaiserthron. Auf dem Kopf trägt sie eine Krone, in der rechten Hand ein Zepter, die linke hält einen Reichsapfel (russisch «dershawa»). Auf ihren Knien sitzt segnend und mit der linken Hand auf seine Mutter weisend das göttliche Kind. Der Gesichtsausdruck der «Zarin des Himmels» ist traurig und streng.
Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit breitete sich der Kult der neuen Ikone aus. Der ganze Fall wurde von der kirchlichen Behörde untersucht und für glaubwürdig befunden. Mit ausdrücklicher Erlaubnis des Patriarchen (damals der energische und streng antikommunistische Tychon) wurde ein Akathistos zusammengestellt (eine liturgische Andacht, bestehend aus 26 Hymnen, davon 13 mit «Alleluja» und 13 mit «Sei gegrüßt, Mutter Gottes, Du mächtige, Du eifrige Helferin der Christenheit» als Kehrreim), der von nun an als ständiger Lobpreis der «Dershawnaja» gesungen wurde. «Ich muss die Regierung übernehmen!»
Der Name «Dershawnaja» leitet sich her vom Wort «dershawa», die Macht. Das Wort bedeutet auch gleichzeitig Reichsapfel, der ja Symbol der königlichen Macht ist. «Dershawnaja» heißt demnach so viel wie «Mächtige», «Herrscherin», «Regierende». Nach einer mündlichen Überlieferung soll die Gottesmutter bei dem zweiten Traumgesicht der Eudokia zu dieser gesagt haben: «Die Monarchie fällt. Ich muß die Regierung in Rußland übernehmen.» Gleichviel, ob diese Überlieferung den Tatsachen entspricht oder nicht, der Glaube daran, daß die Himmelskönigin nach dem Sturz der Monarchie (und vollends nach der Ermordung des Zaren und Zarewitsch) die regierende Zarin Rußlands sei, war allgemein im gläubigen Volk verbreitet. Dieser Glaube wurde durch die Tatsache verstärkt, daß die Ikone gerade an dem Tag erschienen war, an dem Zar Nikolaus II. seine Abdankungsurkunde unterzeichnet hatte. Die Pilger strömten in hellen Scharen nach Kolomenskoje, um die Dershawnaja um Schutz vor den beginnenden Gottlosigkeiten und Kirchenverfolgungen anzuflehen. Zahlreiche Gebetserhörungen wurden gemeldet. Man trug das Gnadenbild in die umliegenden Dörfer und Städte, in die Klöster, Kirchen, Betriebe und Fabriken Moskaus. Überall flehte man um Hilfe, um Erbarmen, um Erlösung von dem vielen Leid, das die neue Gottlosen-Herrschaft bereits über das Volk gebracht hatte. Viele Klöster und Kirchen und noch mehr Laien ließen sich Kopien des wundertätigen Bildes anfertigen. Der oben erwähnte Akathistos wurde in großer Auflage über ganz Rußland verbreitet. Wörtlich heißt es darin, Gott möge Seinen gerechten Zorn, mit dem Er Rußland heimsuche, doch zu Erbarmen wandeln und alle, besonders aber die Götzendiener des Goldenen Kalbes, zum Licht Seiner Erkenntnis führen. «Demütig flehen wir zu Dir, Herrin: besänftige den Schöpfer, damit Er bald Seinen gerechten Zorn in Erbarmen umwandle und sich unser erbarme. Du, der wir Dir zurufen: Sei gegrüßt, Mutter Gottes, Du Mächtige, Du eifrige Helferin des Christenvolkes!»
Es war, als ob Rußland von einem Sturm des Gebetes erfaßt werden sollte. Das merkten aber auch die bolschewistischen Machthaber. Sie begannen, den Kult der neuen Ikone grausam zu verfolgen und verboten ihn schließlich als «konterrevolutionär». Bis zum Tode des Patriarchen Tychon (1925) wurde der Akathistos und die übrigen zu Ehren der «Dershawnaja» neu verfaßten liturgischen Gebete noch in den Kirchen gebetet. Als dann aber später die russische Kirche unter Sergius ihre bekannte Schwenkung nach links machte, ließ sie von ihren Priestern die «Dershawnaja» nicht mehr liturgisch verehren. Auch der Akathistos wurde nicht mehr gedruckt. Nur im geheimen flehten und flehen die Gläubigen vor ihrer «himmlischen Zarin», sie möge ein Ende setzen «diesen Tagen des Leids und der Trübsal». Man muß es einmal erlebt haben, wenn eine Gemeinde auf den Knien liegend den Akathistos zur «Dershawnaja» singt und mit vor Ergriffenheit bebender Stimme folgendes Gebet an die heilige Jungfrau richtet:
«O mächtige Herrin, allerheiligste Gottesgebärerin, die Du in Deinen Armen den hältst, der die ganze Welt erhält, den König des Himmels! Wir danken Dir für Deine unaussprechliche Barmherzigkeit, daß Du uns unwürdigen Sündern diese heilige und wundertätige Ikone hast erscheinen lassen, in diesen bösen und unbarmherzigen Tagen, die wie Sturmwinde über unser Land hereingebrochen sind, in den Tagen unserer Erniedrigung und Bestrafung, in den Tagen der Zerstörung und Entweihung unserer Heiligtümer durch vernunftlose Menschen, die nicht nur im Herzen sondern auch frech mit dem Munde sprechen ‹Es ist kein Gott› und in ihren Taten ihre Gottlosigkeit beweisen. Wir danken Dir, unsere Helferin, daß Du von Deinen heiligen Höhen herabblickst auf die Trübsal und das Leid Deiner Kinder rechten Glaubens, und wie die strahlende Sonne erfreust Du unsere leiderschöpften Augen durch den Anblick Deines Mächtigen Bildes.
O allgebenedeite Mutter Gottes, mächtige und starke Helferin! Wir danken Dir mit Furcht und Zittern, und als unnütze Diener fallen wir ergriffen vor Dir nieder, und in der Zerknirschung unserer Herzen bitten wir Dich unter Tränen und rufen Dir zu: Rette uns, rette uns! Hilf uns, ach hilf uns! Eile, denn wir gehen zugrunde! Siehe, unser Leben hat sich dem Untergang genähert: Wir sind umlagert von der Sünde, Not und bösem Feind. Himmlische Königin! Mit Deinem machtvollen Zepter zerstreue wie Staub und Rauch die gottlosen Anschläge unserer sichtbaren und unsichtbaren Feinde; zerstöre all Ihr maßloses Ansinnen und gebiete ihnen, und als Mutter aller führe sie wieder auf den rechten und gottgefälligen Weg! Pflanze ein in unsere Herzen Gerechtigkeit, Frieden und Freude im Heiligen Geiste. Mache seßhaft In unserem Lande Ruhe, Wohlstand und ungeheuchelte Liebe zueinander. Mit Deiner gewaltigen Macht, Allreine, halte ab die Ströme der Gottlosigkeit, die das russische Land in Ihre schauderhafte Tiefe reißen wollen. Stütze uns Schwache, Kleinmütige und Niedergeschlagene, mache uns stark, richte uns auf und befreie uns: damit wir, von Deiner Macht allzeit geschützt, singen und lobpreisen Deinen allreinen und herrlichen Namen: Jetzt und immerdar und in Ewigkeit.»
Kolomenskoje – Fatima
In Verbindung mit den Erscheinungen von Fatima erschienen uns die Ereignisse in Kolomenskoje gewiß in einem neuen Licht. Wir fragen uns: bestehen da nicht irgendwelche Zusammenhänge? Die eine Erscheinung im äußersten Westen Europas, die andere im fernsten Osten; Fatima und Kolomenskoje, kleine unansehnliche Dörfer; hier drei einfache Bauernkinder, dort eine Bäuerin; hier wie dort die Aufforderung zum Gebet, und bei beiden die geheimnisvolle Zahl 13: in Kolomenskoje die erste Vision der Andrianowa am 13. Februar, die zweite 13 Tage später, am 26. Februar. Selbst wenn man die Daten in den neuen Stil überträgt (die byzantinische Kirche folgte damals noch in ihrer Gesamtheit dem Julianischen Kalender), ändert sich das Bild nicht wesentlich, denn die Differenz zwischen altem und neuem Kalender beträgt ebenfalls 13! Es ergibt sich für die erste Vision wieder eine Dreizehnerzahl, nämlich der 26. Februar. Und in Fatima? Dort waren die Erscheinungen jeweils am 13. der Monate Mai bis Oktober desselben Jahres 1917. Es ist fast, als wollte die Gottesgebärerin, nachdem in Rußland ihre Herrschaft mit aller Macht bekämpft und unterdrückt wurde, nun in Fatima die ganze Welt aufrufen, ihr durch Gebet und Buße diese Herrschaft wieder zu errichten.
«Und auch Rußland wird sich bekehren!» Die Erfüllung dieser Verheißung ist das Ziel unseres Betens und Opferns, unserer Buße und Bekehrung. Rußland soll wieder zu dem werden, als was es sich in alter Zeit benannte: «Haus der allheiligen Gottesgebärerin.» In allen Gotteshäusern soll wieder das Gebet zur Wladimirschen Gottesmutter erklingen: «Wir danken Dir für alle Wohltaten, die Du dem russischen Volk von alters her auf den heutigen Tag durch Deine wundertätigen lkonen erwiesen hast.»
Wolfgang Totzke, Niederaltaich
Samstag, 13. Januar 2007
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